Der Fabulant

„Lügenpresse“:
Medien mit System?

Manipulieren geht über Studieren

Wenn ihr eure Infos nicht gerade aus meinem allseits vertrauten Portal einholt, greift ihr vermutlich wie die meisten auf andere etablierte und traditionelle Medien zurück. Die versorgen uns ja (in der Regel) zuverlässig mit reichlich News aus aller Welt und bieten eine Plattform für unterschiedlichste Meinungen aus unserer Gesellschaft. Das sehen allerdings längst nicht alle so. Mit dem Schlachtruf „Lügenpresse“ oder „Systemmedien“ ziehen vor allem populistische und politisch-extremistische Akteure in den Kampf gegen die freie Presse und den Journalismus. Die Behauptung: Der gesamten Medienbranche kann man nicht trauen. Na, da wollen wir doch mal sehen, wer hier wirklich lügt wie gedruckt.

Pauschale Ablehnung statt legitimer Kritik  

Dass sich die Presse hin und wieder mal täuscht oder ein Medium manchmal falsch liegt, ist unvermeidbar und passiert den Besten (ja, sogar mir). Der Begriff „Lügenpresse“ ist allerdings kein freundlicher Reminder, der uns Lesende mahnend daran erinnern soll, dass auch große Medienhäuser Fehler machen können – was ein nützlicher Hinweis für die Medienlandschaft wäre. Gemeint ist, dass „die da oben“ die Bevölkerung gezielt mittels „Systemmedien“ manipulieren sollen. Bedient wird dabei ein klassisches Gut-gegen-Böse-Weltbild: Wir hier unten gegen die da oben!

Die Anschuldigung, die Presse verbreite Unwahrheiten und würde im Auftrag elitärer Mächte gegen das eigene Volk wettern, ist übrigens alles andere als druckfrisch. Bereits im frühen 19. Jahrhundert wurde dieser Verschwörungsmythos detailliert ausgeklügelt. Gegner der technischen und gesellschaftlichen Modernisierung fanden in den damaligen Journalisten, Autoren und Buchhändlern der Aufklärungsbewegung ein perfektes Feindbild.

Nach der Märzrevolution 1848 etabliert sich der Begriff „Lügenpresse“ dann auch endgültig in den konservativen Lagern jener Zeit. Dreimal dürft ihr raten, wer dann – wieder mal – als diabolischer „Strippenzieher“ auserkoren wurde: Ihr ahnt es, die jüdischen Menschen. Egal ob Liberalismus, Sozialismus oder Demokratie – sämtliches vermeintliches Unheil der gesamten modernen Welt wurde als jüdische Machenschaft abgestempelt, die mit Hilfe der „Lügenpresse“ verbreitet worden sei. Diese antisemitische Leier findet sich dann in voller Ausarbeitung in einer weltbekannten Hetzschrift wieder, den „Protokollen der Weisen von Zion“.

Die Nationalsozialisten machten sich vor 1933 den Begriff „Lügenpresse“ zunutze, um Medien, die in ihrer Berichterstattung nicht den eigenen Wertvorstellungen entsprachen, als Lügner darzustellen und gegen Jüdinnen und Juden zu hetzen. Nachdem die gesamte deutsche Presse unter die Kontrolle der NSDAP gelangt war, bezeichnete die Nazi-Propaganda dann wieder vorwiegend ausländische Zeitungen als „Lügenpresse“, um ihre Taten weiterhin zu rechtfertigen. Der Kampfbegriff entpuppte sich als mächtige Waffe, das ist er bis heute.

Die Suche nach der (eigenen) Wahrheit

Daher auch kein Wunder, dass das Schlagwort „Lügenpresse“ zum Unwort des Jahres 2014 gekürt wurde. Nachträglichen Glückwunsch dafür – absolut verdient, wie ich finde. Seither wird vorwiegend in populistischen und rechtsextremen Kreisen auch über „Staatsfunk“, „Pinocchio-Presse“, „Lückenpresse” und „gekaufte Journalisten“ geschimpft. Vor allem Themen wie Integration, Terrorismus oder die Corona-Pandemie befeuern den immer noch brandaktuellen Verschwörungsmythos um eine angeblich gesteuerte Medienlandschaft.

Auch den Skandal vom ehemaligen Journalisten Claas Relotius ziehen die Fans vom Lügenpressemythos aus der Mottenkiste hervor – als angeblichen Beweis für eine verlogene Berichterstattung der gesamten Branche. Relotius hatte während seiner journalistischen Tätigkeit bei verschiedenen Medienhäusern große Teile seiner Reportagen und Interviews frei erfunden – was ihn seinen Job und Ruf als Journalisten kostete. Der Fall wurde seither umfänglich geprüft und zahlreiche Texte des Autors entfernt.

Anstatt legitimer Medienkritik erhält man bei diesem Verschwörungsklassiker einen starren Glauben an eine gesteuerte „Staatspropaganda“. Dieses pauschale Misstrauen gefährdet nicht nur die freie Presse, sondern auch die Grundpfeiler unserer Demokratie. Selbsternannte „Systemkritiker“ flüchten sich in eine mediale Parallelwelt und suchen dort die einzig wahre Wahrheit – zumindest die, die sie gerne hätten. Gefordert wird Meinungsvielfalt, jedoch wird alles außerhalb der eigenen Meinung kompromisslos als Lüge abgetan und mittels antisemitischem Narrativ hinausgebrüllt. Eine pluralistische Gesellschaft sieht definitiv anders aus. Mein Tipp: Einfach mal die Presse falten.

Quellen

auf einem Blick

Darum geht’s

Der Begriff „Lügenpresse“ ist ein politisch instrumentalisierter Kampfbegriff gegen etablierte und traditionelle Medien. Dabei wird häufig der gesamten Medienbranche vorgeworfen, gezielt Unwahrheiten zu veröffentlichen.

Pro

Sich kritisch mit Medien auseinanderzusetzen, ist erstmal kein schlechter Ansatz. Eine gesamte Branche pauschal als „Lügenpresse“ abzustempeln, führt allerdings nicht zur Wahrheit, sondern in eine demokratiefeindliche Ecke mit irreführendem Vokabular und problematischer Historie.

Kontra

  • Die Verschwörungserzählung der „Lügenpresse“ hat einen antisemitischen Kern, welcher auch heute noch durch Codes, wie „Strippenzieher“ verbreitet wird.

  • Die Pressefreiheit gehört zu den Grundrechten der Demokratie und gewährleistet, dass Vertreter und Vertreterinnen der Presse frei (und im rechtlichen Rahmen) ihre Meinung äußern dürfen.

  • Der Begriff „Lügenpresse“ wurde bereits im Ersten und Zweiten Weltkrieg als Kampfbegriff und zur Diffamierung verwendet.

  • Vor allem populistische, verschwörungsideologische und rechtsextreme Akteurinnen und Akteure verwenden den Begriff, um für ihre eigene Agenda zu mobilisieren und gegen die freie Presse zu hetzen.

  • Der Begriff „Lügenpresse“ steht nicht für eine kritische Auseinandersetzung mit Medien, sondern diffamiert pauschal eine gesamte Branche, die sich mehrheitlich bemüht, gesellschaftspolitische Themen differenziert darzustellen.

  • Eine pauschale Verurteilung der Presse verhindert fundierte Medienkritik und leistet einen Beitrag zur Gefährdung der für die Demokratie wichtigen Pressefreiheit.

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