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Friedrich Merz wird der zehnte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Ob er auch schon weiß, dass er neben dem Koalitionsvertrag auch noch ein ganz geheimes Dokument unterzeichnen muss?
Das behaupten zumindest diejenigen, die an die sogenannte „Kanzlerakte“ glauben. Die soll nämlich Teil eines angeblichen „geheimen Staatsvertrags vom 21. Mai 1949“ sein. Hat diesen Staatsvertrag schon einmal jemand gesehen? Nein! Und das nicht, weil er soooo geheim ist, sondern weil er in Wahrheit gar nicht existiert. Außerdem ist er verschwunden. Oder zumindest eine Kopie davon. Das zumindest steht in einem gefälschten, auf das Jahr 1992 datierten, Dokument, das angeblich aus der Feder des „BND-Staatsministers“ Dr. Rickermann stammt.
Dieses „sehr geheime BND-Dokument“, das seit Jahren durch das Internet geistert, teilt nicht nur den Verlust der ominösen Kopie 4 des „geheimen Staatsvertrages“ mit, sondern fasst auch grob zusammen, was in dem nicht existenten Staatsvertrag angeblich gestanden haben soll. So sollen die alliierten Mächte bis 2099 über Zeitungs- und Rundfunkmedien bestimmen und die Goldreserven der Bundesrepublik gepfändet haben. Und eben auch jeden neuen Kanzler und jede neue Kanzlerin zur Unterschrift der „Kanzlerakte“ zwingen!
Man braucht keine Lupe, um zu erkennen, dass bei der Fälschung des angeblichen BND-Dokumentes mindestens ein Stümper am Werk war, der dazu auch noch schlecht recherchiert hat. Unzählige Ungereimtheiten zieren dieses Schriftstück und auch „Dr. Rickermann“ ist mehr Fiktion als Opfer eines Plagiates: Ihn hat es nie gegeben. Glück gehabt, denn er scheint in seinem Job nicht gerade zu brillieren. Denn die Rickermannsche Strategie ist laut dem angeblichen Schreiben, beim Auftauchen eines Geheimvertrages einfach nur zu sagen „Nee, das ist gar nicht echt!“. Da ist der Schlagabtausch im Stil von Verschwörungsgläubigen doch vorprogrammiert: „Nein!“ „Doch!“ „Ohh!“
Spannend wurde es aber kurz im Jahr 2006, als Zitate auftauchten, die die Fälschung des geheimen BND-Dokumentes durch einen „Herrn M. aus München“ einräumten. Verifizieren lässt sich das allerdings heute nicht mehr, da die ursprüngliche Quelle dieses Berichtes nicht mehr zu finden ist. Laut einigen Online-Artikeln stammt die Geschichte von der Publikation „Politische Hintergrundinformationen (PHI)“, die in rechtsextremen Kreisen gelesen wurde. Laut dem online kursierenden Zitat soll Herr M. in einem Interview mit der Zeitschrift die Fälschung eingeräumt und diese mit Verschwörungserzählungen gerechtfertigt haben. So oder so lässt sich festhalten: es gibt weder einen geheimen Staatsvertrag mit den Alliierten, noch die „Kanzlerakte“, noch das ominöse BND-Schreiben aus 1992.
Doch warum kursieren überhaupt noch Behauptungen über diesen angeblichen geheimen Staatsvertrag? Nun ja, im Laufe der Jahrzehnte gab es noch ein paar Advokaten der „Kanzlerakte“, die die Legende fleißig weiter teilten oder Zitate aus dem Zusammenhang rissen und sich so angebliche Beweise für die „Kanzlerakte“ strickten. So nahm Gerd-Helmut Komossa, einstiger Leiter des Amtes für den Militärischen Abschirmdienst, die Behauptung von einem geheimen Staatsvertrag vom 21. Mai 1949 in seinem Buch auf: „Die deutsche Karte – Das verdeckte Spiel der geheimen Dienste. Ein Amtschef des MAD berichtet“ aus dem Jahr 2007, erschienen im rechtsgerichteten Ares-Verlag. Das wird heute noch zitiert, wenn es um den angeblichen geheimen Staatsvertrag geht. Ebenso wird häufig ein Artikel in der „ZEIT“ von Egon Bahr aus dem Jahr 2009 aus dem Zusammenhang gerissen. In diesem schrieb der einstige Minister, dass der 1969 neu eingesetzte Kanzler Willy Brandt bei seinem Amtseintritt ein Schreiben an die Botschafter der USA, Frankreich und Großbritannien unterzeichnen musste, dass Brandt als „Unterwerfungsbrief“ bezeichnet haben soll. Bahr selbst nutzte den Begriff „Kanzlerakte“ nicht, sondern schrieb in seinem Artikel, dass es sich bei den Briefen um die Zustimmung des Kanzlers zu den verbindlichen Vorbehalten der Militärgouverneure aus dem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 gehandelt habe. Dieses ist im Übrigen nicht geheim und kann online nachgelesen werden. Selbst wenn diese Zustimmung damals als „Kanzlerakte“ durchgegangen wäre, wäre spätestens mit dem 1990 beschlossenen Zwei-plus-Vier-Vertrag Schluss mit dieser gewesen, da dieser Vertrag die Viermächte-Verantwortung in Bezug auf Deutschland und Berlin komplett auflöst. Dennoch wird Bahrs Zitat noch heute als Beweis für die Existenz der „Kanzlerakte“ verbreitet.
Insbesondere in Kreisen der Reichsbürgerideologie will man die Kanzlerakte einfach nicht loslassen, eignet sie sich doch als ideales Argument gegen die Legitimierung der Bundesrepublik und ihrer Regierung sowie für die Leugnung der Souveränität des Staates. Auch die russische Regierung hat anscheinend Interesse daran, Deutschland als „Versaillenstaat“ der USA zu framen. So wurde 2015 auf dem halbstaatlichen Sender „Perwy kanal“ (dt. „Erster Kanal“) über die angebliche „Kanzlerakte“ berichtet und weitere Desinformationen dazu gesponnen. Der Sender ist bekannt für die Verbreitung von Falschmeldungen im Sinne russischer Propaganda.
Bleibt die Frage, was eigentlich genau in der angeblichen „Kanzlerakte“ denn so steht? Antworten darauf gibt es auf der „vertrauenswürdigen“ Plattform Telegram. Seit Beginn des Russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Jahr 2022 kursiert dort die Verschwörungserzählung, dass die NATO einen Krieg gegen Russland von langer Hand geplant habe und Kanzler Olaf Scholz dem zustimmen musste – weil es in der „Kanzlerakte“ steht! Originalquelle laut einer Telegram-Nachricht vom 20. August 2023: „Hören-Sagen“. Und damit schließe ich die Akte „Kanzlerakte“.
Bahr, E. (14. Mai 2009). Die Grenzen der Souveränität. Erschienen auf ZEIT ONLINE. Abgerufen am 1. April 2025, von https://www.zeit.de/2009/21/D-Souveraenitaet
bpb. (o. D.). Zwei-plus-Vier-Vertrag. Abgerufen am 1. April 2025, von https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/zwei-plus-vier-vertrag/
Bundestag. (2009). Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Neskovic, Petra Pau und der Fraktion DIE LINKE – Drucksache 16/12025. Abgerufen am 1. April 2025, von https://dserver.bundestag.de/btd/16/120/1612025.pdf#page=7
dpa. (6. April 2022). «Kanzlerakte» ist erfunden und kein Beleg für einen Kriegsplan gegen Russland. Abgerufen am 1. April 2025, von https://dpa-factchecking.com/germany/220401-99-762220/
dpa. (19. März 2024). Der Mythos der Kanzlerakte – ein alter Klassiker der Verschwörungserzählungen. Abgerufen am 1. April 2025, von https://dpa-factchecking.com/germany/240319-99-393785/
Korrektheiten. (6. März 2011). Die Kanzlerakte – Agitation unter falscher Flagge (Claus Nordbruch). Abgerufen am 1. April 2025, von https://korrektheiten.com/2011/03/06/die-kanzlerakte-agitation-unter-falscher-flagge-claus-nordbruch/
Mimikama. (o. D.). „NATO plante Krieg gegen Russland“ – Das Märchen von der Kanzlerakte. Abgerufen am 1. April 2025, von https://www.mimikama.org/kanzlerakte-maerchen/
Sonnenstaatland. (o.D.). Kanzlerakte. Abgerufen am 1. April 2025, von https://wiki.sonnenstaatland.com/wiki/Kanzlerakte
Verfassungen.de. (o. D.). Grundgesetz (Genehmigung der Militärgouverneure 1949). Abgerufen am 1. April 2025, von https://www.verfassungen.de/de49/grundgesetz-genehmigung49.htm
Dr. Berwinkel, H. (6. Oktober 2017). Was ist die „Kanzlerakte“? Über Aktenkunde und Aktenkritik. In: Aktenkunde. Abgerufen am 1. April 2025, von https://aktenkunde.hypotheses.org/163
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